10
Aug
2006

Umschwenken

Wer derzeit den Fantastika betritt befindet sich im Krisengebiet. Und in einer Krise muß man auch schnell mal eine Entscheidung treffen, die vielleicht gar nicht abzusehen war. Da gibt es zum Beispiel den Paul.
Der Paul rückte an, um sich einen MP3-Player zu besorgen. Sein Ziel war es, so wenig wie möglich auszugeben. Logische Schlussfolgerung: Paul klaut sich einen. Also los, Paulchen:

Zuerst der Eingangsbereich. Kaum wiederzuerkennen. Die Kassen sehen komisch aus, denkt Paul. Früher mußte man durch ein kleines Labyrinth um an eine der Kassen zu kommen. Das ist jetzt vorbei, dafür sind weniger Kassen da. Aber da wollte Paul ja ohnehin nicht vorbeischauen. Paul wollte einen MP3-Player.
Ein paar Schritte geradeaus kommt er sich vor wie an einem kleinen Flughafen. Links sind nun mehrere Terminals angebracht, früher stand hier einfach nur ein langes Regal mit Zubehör. Jetzt werden hier die ganzen Handy-Abzockerverträge abgeschlossen. Und Schutzbriefe. Und Garantieverlängerungen. Undundund. Wer ist hier eigentlich der Verbrecher?

Zu seiner Rechten befindet sich ein nicht mehr zu identifizierende Abteilung, die aussieht, als sei sie gerade einmal komplett herausgenommen, geschüttelt und wieder eingesetzt worden. Sämtliche Regale stehen nicht mehr quer sondern längs. So hat Paul das Gefühl, er gleitet nur so durch die Gänge. Früher, als alles noch quer stand, da hatte er immer so ein drückendes Gefühl auf der Brust, wenn er den Laden betrat. Aber jetzt fühlt er sich eingeladen. Schön.

Vor ihm liegt die Fernsehabteilung. Hübsch sieht sie aus. Paul schaut sich einen großen Plasma-Fernseher an und vergleicht ihn mit einem LCD. Was für ein riesen Unterschied, denkt sich Paul und hört zufällig ein Gespräch mit, das von den wichtigen Anzugträgern geführt wird, die gleich neben ihm stehen:

- Nein, das geht so nicht. Die Fernseher müssen alle die gleiche Höhe haben. Die sollen alle mit der Oberkante gleich abschliessen.
- Aber die Fernseher sind nunmal verschieden groß.
- Bestellen sie einfach genügend Racks, die gleich groß sind.
- Aber wenn die Fernseher eine unterschiedliche Höhe haben, nützen gleichgroße Racks auch nichts.
- Dann besorgen sie eben Racks, die etwas höher sind.
- Soll ich für jeden Fernseher ein neues Rack bestellen?
- Da ist doch meistens ein Rack dabei.
- Aber die sind doch alle unterschiedlich hoch.
- Die sollen aber mit der Oberkante alle auf gleicher Höhe abschliessen.

Gut, das ich damit nichts zu tun habe, denkt Paul und geht weiter.
Ah, hier sind jetzt die Hifi-Geräte. Paul sieht eine lange Reihe von DVD-Recordern und ganz am Ende einen Bretterverschlag die offensichtlich Hifi-Geräte und Boxen beherbergt. In dem Bretterverschlag steht eine riesige Säule die ein Paar Lautsprecher verdeckt und daneben sitzt ein einsamer Verkäufer und weint. Als Paul näher kommt, erkennt er am Hemdkragen des Verkäufers einen kleinen Button auf dem steht: Shit Happens. Der Verkäufer trägt kein Namenschild und wiegt sich im Schneidersitz hin und her. Paul geht weiter.

Zu seiner Linken erkennt Paul seine geliebten MP3-Player. Er bahnt sich seinen Weg an den umherliegenden Brettern, Metallteilen, Paletten, Kabelhaufen und Kartons vorbei und trifft auf halbe Strecke eine verärgerte junge Dame, die ihn direkt anspricht:
Finden sie das nicht auch schrecklich hier? Da will man mal in Ruhe einkaufen und dann sowas. Ich verstehe das nicht. Jetzt muß ich für einen Toaster oder ein paar Staubsaugerbeutel extra nach oben gehen. Sowas bescheuertes. Und dieser Krach erst. In so einen Drecksladen gehe ich sicherlich nicht nochmal. Und die Verkäufer hier sind auch irgendwie komisch.

Paul nickt kurz, winkt aber gleichzeitig ab und mogelt sich an ihr vorbei. Entsetzt darüber einfach stehen gelassen worden zu sein dreht die Dame sich um fängt an, den Ausgang zu suchen, den sie nach ca. 20 Minuten auch finden und sehr verärgert benutzen sollte.

Paul hat anderes im Vizir:
Da sind sie. Massenweise MP3-Player liegen da hübsch nebeneinander. Ist ja nicht verschwer, denkt sich Paul. Wenn dieser dicke Verkäufer gerade nicht hinschaut stecke ich mir einen ein. Paul sucht sich ein Gerät aus. Auf der gegenüberliegenden Seite streiten sich zwei Mitarbeiter dieses Hauses darüber, ob man nun zwei oder drei Zentimeter mehr Platz lassen soll, zwischen den Regalböden. Die sind auf jedenfall erstmal beschäftigt. Paul wartet noch einen Moment. Er braucht noch einen Schritt zu tun um das geschwünschte Gerät greifen zu können. Der Dicke Verkäufer geht zu einem anderen und lässt sich von ihm irgendwas geben. Guter Moment, denkt sich Paul, schreitet zu Tat. Einen Schritt vor, leicht nach vorne bücken, die Hand blitzschnell ausgestreckt piiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiieeeeeeeeeeeeeeesps!

Paul knallt vor Schreck mit der Stirn auf die Kante des Regals, fängt sich aber schnell wieder und drückt sein Kreuz in mit einer Kraft und einer Geschwindigkeit durch, bei der andere Kreuze brechen würden, und steht nun starr wie eine Laterne vor dem Audio-Kleinod. Der Schmerz an seinem Kopf bleibt beinahe unbemerkt, drückt dieses fürchterliche Geräusch doch so sehr auf sein Trommelfell, das es beinahe zu platzen droht. Nicht einmal berührt, hatte er das Ding. Und als hätten die millimeterlangen Schallwellen kleine Spitzhacken dabei, arbeiten sie sich durch den Gehörgang in sein verbrecherisches Gehirn. Ein so widerliches Geräusch in so einer Lautstärke hatte er nicht erwartet. Er dachte sich, er würde einen MP3-Spieler in Händen halten, stattdessen hält er sich den Kopf aus Angst, das er platzten könnte.

Plötzlich taucht der Dicke neben ihm auf und drückt auf einen Knopf auf dem Teil, was ihm sein Kollege gerade zugesteckt hatte. Paul rutscht das Herz in die Hose. Aber eigentlich hat er ja noch nichts verbrochen. Der Alarm geht aus und er Dicke lacht ihn an. Jaja, das passiert öfter, sagt er. Nichts bei denken, die Anlage ist noch neu.

Ganz bestimmt nicht
, mumelt Paul schwer eingeschüchtert. Der Verkäufer fummelt ein wenig an einem grauen Kasten herum und sagt dann recht schnell: So, jetzt ist alles wieder gut, höhö. Dann dreht er sich um und geht. Paul bleibt mit Kopfschmerzen und leicht erhöhtem Blutdruck zurück und hört die beiden Verkäufer weiter über die Regalhöhe streiten. Dann schnappt er sich einen Player und macht sich schnell vom Acker. Kurz vor der Kasse hört er wieder dieses laute Piepsen, bleibt stehen und fast sich nocheinmal an den Kopf. Weiter vorn an der Decke erkennt er eine Kamera. Und am Eingang steht ein Typ, der ein Ladendetektiv sein könnte. Er schlägt den Weg nach rechts zur Kasse ein, sagt artig seine Postleitzahl und bezahlt. Als er an dem Typ vorbei geht spricht der ihn an: Haste mal´n paar Cent für mich?

Jetzt sitzt er da, der Paul und sein Kopf dröhnt noch immer. Klauen ist ganz schön schwierig. Der neue Player liegt noch originalverpackt vor ihm auf dem Tisch und seinen letzten Cent gab er freigibig fort. Morgen wird er das Gerät umtauschen müssen, denn eigentlich kann er ihn sich ja gar nicht leisten. Bis dahin hat vielleicht auch das Klingeln in seinen Ohren aufgehört.

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